Grenzen des Sicht­ba­ren 2017

Gemein­schafts­aus­stel­lung der Gruppe77, ORF Graz

Aurelia Mein­hart hat es bei Piero della Fran­ce­s­ca ent­deckt. Das im Raum hän­gen­de Ei. An einer Gold­ket­te hängt es in einer Jakobs­mu­schel aus, viel­leicht, Marmor direkt über Maria. Sie hat die Hände gefal­tet, in ihrem Schoß der schla­fen­de Jesus. Um sie herum vier Engel (wie die Kunst­ge­schich­te weiß) und sechs Heilige. Vor ihr kniet der Auf­trag­ge­ber des Altar­bil­des, Feder­i­co da Mon­te­fel­t­ro. Jener mäch­ti­ge Cond­ot­tie­re, den Piero in einem nicht minder berühm­ten Porträt zu einer Ikone der Renais­sance macht (eben­falls im mar­kan­ten Profil, mit rotem Hut und rotem Wams).

Pieros Ei stammt ver­mut­lich eben­falls von einem Strauß (das in der Per­spek­ti­ve relativ klein scheint). Inter­pre­ta­tio­nen für seine doch sehr zen­tra­le Präsenz gibt es viele. Das “Wel­te­nei” taucht in vielen Kul­tu­ren auf. Für die alten Ägypter sym­bo­li­sier­te das Ei das Leben nach dem Tod, in der indi­schen Mytho­lo­gie wird der ganze Kosmos in Form eines Eis erschaf­fen, Augus­ti­nus erklärt es zum Symbol der Hoff­nung. Für den mit­tel­al­ter­li­chen säch­si­schen Theo­lo­gen Hugo von St. Viktor steht es für Christi Tod und Auf­er­ste­hung. Im kon­kre­ten Bild wird es von Kunst- und Kul­tur­his­to­ri­kern als Symbol für die Unbe­fleck­te Emp­fäng­nis Marias gedeutet.

Man kann also sagen: das Ei an sich hat es in sich. In seiner schwer über­biet­ba­ren Per­fek­ti­on eignet es sich spe­zi­ell als Pro­jek­ti­ons­flä­che. Und genau als solche nutzt es Aurelia Mein­hart in ihrer Arbeit. Indem sie vor eine schwar­ze Ple­xi­glas­plat­te im schwar­zen Alu-Rahmen 
ein über einen Licht­ka­nal von innen beleuch­te­tes Strau­ßen­ei mit ein­ge­fräs­ter Schrift hängt und dieses noch dazu in leichte Rota­ti­on gebracht werden kann. Die Schrift auf der Schale ist der Titel von Arbeit und Aus­stel­lung: “Die Grenzen des Sichtbaren”.

Mein­hart eröff­net auf ele­gan­te Art und Weise ein enormes Asso­zia­ti­ons­feld. Sie erschafft gewis­ser­ma­ßen ihr eigenes “Wel­te­nei”, das einem ganzen Kosmos locker Platz bietet. Wer — Achtung! — in diesen vor­dringt, kann urknall­plötz­lich vor dem “schwar­zen Loch der Milch­stra­ße” stehen, vor nichts Gerin­ge­rem als der Unend­lich­keit. Die Künst­le­rin weiß (selbst)ironisch um das Risiko, das die “Ver­kör­pe­rung des Ganz­heit­li­chen” mit sich bringt: “Die Rundung als Unend­lich­keit ist fast zum wahn­sin­nig werden.” Wie würde Piero sagen? “Corrag­gio!” Nur Mut.

Text: Walter Titz

 

ORF Graz, Gruppe 77 “Grenzen des Sicht­ba­ren“ 2017

Aurelia Mein­hart actual­ly dis­co­ver­ed it when she saw Piero della Francesca’s pendent egg. Hanging on a golden thread, it is sus­pen­ded from a – maybe – marble shell direct­ly above Mary’s head. Sur­roun­ded by four angels (as art history will have it) and six saints, she folds her hands, with the slee­ping Child on her lap. Before her kneels the man who com­mis­sio­ned the altar­pie­ce, Feder­i­co da Mon­te­fel­t­ro, a powerful cond­ot­tie­re, who was made an icon of Renais­sance by Piero in an equally famous por­trait (like­wi­se por­tray­ed in distinc­ti­ve profile in a red hat and red doublet).

Piero’s egg is pro­ba­b­ly that of an ostrich, too (alt­hough it looks rela­tively small from a distance). There have been many inter­pre­ta­ti­ons of its very central pre­sence. The “world egg” is found in many cul­tures. For the old Egyp­ti­ans, it sym­bo­li­sed life after death, and in Indian mytho­lo­gy, the whole cosmos appears in the form of an egg, while Augus­ti­ne of Hippo declared it a symbol of hope. For Hugo of Saint Victor, a medieval Saxon theo­lo­gi­an, the egg stood for Christ’s death and resur­rec­tion. In this par­ti­cu­lar por­tra­y­al, it is inter­pre­ted by art and culture his­to­ri­ans as a symbol of the Imma­cu­la­te Con­cep­ti­on of Mary.

To put it in a nuts­hell: there is more to the egg than meets the eye. In its almost unsur­pas­sa­ble per­fec­tion, it offers an ideal pro­jec­tion surface. And that is exactly how Aurelia Mein­hart uses it in her work. Above a light channel in front of a sheet of black Ple­xi­glas in a black alu­mi­ni­um frame she has sus­pen­ded an intern­al­ly lit ostrich egg, which can also gently rotate, bearing milled in letters which can be brought into slight rota­ti­on as well. The letters on the egg shell spell out the title of her work and of the exhi­bi­ti­on: “The Boun­da­ries of the Visible”.

Mein­hart ele­gant­ly opens an enorm­ous sphere of asso­cia­ti­ons. She has created her own “world egg”, as it were, that pro­vi­des enough room for the whole cosmos. Whoever – be careful! – pene­tra­tes it, could – slap-bang – find them­sel­ves facing the “black hole in the milky way”, stan­ding before none other than eter­ni­ty itself. In her (self) irony, the artist is well aware of the risk accom­pany­ing the “embo­di­ment of the holi­stic”: “To see cur­vat­u­re as eter­ni­ty almost drives me crazy.” How would Piero put it? “Corrag­gio!“ Keep cool.

Text: Walter Titz

 

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